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an nehme eine große Portion Mut, Leidenschaft für gute Drinks und viel Empathie für Gäste. Das Ergebnis: 1,54 Meter "full of female power". So oder ähnlich lässt sich Linh Nguyen beschreiben, die beste Barkeeperin der Welt.
Die gebürtige Magdeburgerin mit vietnamesischen Wurzeln schüttelt die Bartender Szene seit Jahren kräftig durch. Einst stark männlich dominiert, bekommt die Branche mit ihr viele neue Aromen serviert - mit feministischem Touch. " Meine Drinks sind oft rot - schmeckt einfach besser!" Frisch, selbstbewusst und zielsicher kombiniert sie Grundzutaten zu geschmacklicher Perfektion. Dabei war der Weg dorthin alles andere als leicht.
Der Vater: Maschinenbauingenieur mit zunächst wenig Begeisterung für die beruflichen Ambitionen seiner Tochter. Der erste Chef: Ein Könner an der Bar, aber mit der Einstellung, Frauen gehören vor, nicht hinter den Tresen. An Widerständen mangelte es nicht - besonders für sie als zierliche Frau. "Man nahm mich am Anfang oft nicht ernst." Als sie dann auf der Karriereleiter nach oben kletterte und für ihre Mix-Kompetenz Preise erhielt, hieß es: Klar, das ist der Frauen-Bonus." Umso wichtiger war es ihr, sich unter Frauen zu beweisen. Das gelang beim Lady Amarena International, einem Wettbewerb nur für weibliche Bartender. Ergebnis: erster Platz.
"Rember Me" heißt einer ihrer selbstentwickelten Cocktail Kreationen, mit denen sie sich in die Herzen der Wettbewerbs-Junioren mixt. Und wer dieser energiegeladenen Perfektionistin einmal bei der Arbeit zusehen durfte, wird sie schwerlich vergessen.
Ein Besuch verschiedener Cocktailbars in Helsinki in jungen Jahren gab den Ausschlag für die Liebe zu Bars und Bitters. Es folgten Reisen nach Asien, Spanien... ihr öffnete sich ein ganzer Kosmos an Aromen, Düften, Farben. Linh beginnt, sich mit den verschiedenen Grundzutaten zu befassen, fängt an, mit Genuss privat zu kochen – und kämpft für ihren beruflichen Traum.
Ihrer Familie zuliebe beendet sie das BWL-Studium, arbeitet neben der Uni aber in der Gastronomie. Das Vila Vita Rosenpark Hotel in Marburg wird ihre erste Anlaufstelle. Tische eindecken, Gäste bedienen – Abend für Abend. Statt Frust wächst Freude – doch der wahre Sehnsuchtsort wartet eine breite, halbrunde Treppe weiter oben: die 360° Bar. Der Chef rät ihr zu einer dreimonatigen Bartender Ausbildung in Spanien. Nach ihrer Rückkehr muss sie sich den Platz hinter dem Tresen trotzdem erst erkämpfen – und sich dort Abend für Abend behaupten. Irgendwann erkennt auch ihr Vorgesetzter das Potential seiner Mitarbeiterin – aus fordern wird fördern. Er unterstützt sie bei der Teilnahme an Wettbewerben, gibt Feedback zu ihren Cocktailkreationen und teilt seine Erfahrungen. Fleiß und Mühe zahlen sich aus.
„Ich will und brauche keinen Mädchenbonus.“ Doch als Kompetenz hinter dem Tresen ernst genommen zu werden, ist als zierliche Frau noch immer eine Gratwanderung. 1/54 heißt ein weiterer Linh-Cocktail. Bitter-süße Aromen dominieren. „Darin habe ich Eigenschaften verarbeitet, die andere mir zuschreiben. Ich werde entweder schnell als süß oder garstig wahrgenommen.“ Vielleicht ist es aber auch der weibliche Blick, der einen neuen Zugang zu Aromen eröffnet. Denn Sensorik und Geschmack basieren auf einer Fülle unterschiedlichster Aspekte.
„Licht, Klima, Farben, Geräusche oder Musik formen meine Wahrnehmung beim Trinken. Da passiert ganz viel im Unterbewusstsein.“ Ein Cuba Libre wird mit gleichem Rezept und Zutaten in Kuba trotzdem anders schmecken als in Deutschland. „Stell Dir umgekehrt vor, Du trinkst einen Glühwein in der Karibik,
statt auf einem Weihnachtsmarkt – schmeckt sofort anders.“ Sich derartige Details bewusst zu machen, hilft bei der Entwicklung neuer Rezepturen. Sogar zwischenmenschliche Erfahrungen können dabei mitmischen. „Das ist wie beim Schreiben von einem Lied. Damit können auch Emotionen transportiert werden – genauso geht’s bei einem guten Drink.“
Wie steht sie heute zu ihrem Beruf? „Man muss darin verliebt sein, wie in eine Familie, auch wenn es mal nervt. Sonst ist diese Leidenschaft nicht möglich. Ich hasse zum Beispiel Gläser spülen, aber es gehört dazu. Liebe wächst und entwickelt sich, sie erfordert Arbeit und muss gepflegt werden. So ist es auch im Beruf.“ Standardsätze hat sie abgeschafft. Sie möchte lieber einen authentischen, sympathischen Umgang mit ihren Gästen pflegen. „Was möchten Sie bestellen? Diese Frage stelle ich nicht.“ Ebenso persönlich, wie professionell hören Barbesucher von ihr eher etwas wie „Kann es sein, dass Sie Lust auf einen Tequila haben?“ Oder die Bestellung beginnt mit einem Gespräch: „Waren Sie schon einmal in Schottland?“ Sie erspürt, zu welcher Aromen-Reise ihre Gäste bereit sind. Wer will sich eher an einem Margarita festhalten? Und wer hat Lust auf etwas komplett Neues? Wichtig dabei: Sicherheit ausstrahlen, zuhören können und mit viel Empathie reagieren.
"Das Tolle an der Gastronomie ist: Du bekommst sofort ein Feedback vom Gast. Diese hohe Resonanz ist eine unglaubliche Bereicherung für mich.“ Den Bonus wollte sie
auch Köchen ihres Teams zukommen lassen, die Rückmeldungen sonst nur über Servicemitarbeiter erhalten. „Wer ist der Mann hinter dem Brokkoli? Das wollte ich Gästen zeigen.“ Ihre Köche waren zunächst erschrocken, angesichts so viel Aufmerksamkeit. Doch Linh blieb unbeirrt. „Ich gebe Menschen gerne die Chance, sich ihre Wertschätzung abzuholen.“ Statt sturem Abarbeiten von Bestellungen
sind es diese Momente, die Gastronomiemitarbeitern den Wert ihrer Arbeit zeigen. Linh ist überzeugt: „Es braucht mehr Sozialkompetenz von Führungskräften in der Gastronomie.“ Denn nur wer Wertschätzung vermittelt, kann sein Team auch für die Arbeit begeistern. „Sonst steckt man die ganze Zeit bloß in einem Hamsterrad.“ Was dabei hilft? „Sozialkompetenz sollte bereits in der Ausbildung von Gastronomen stärker vermittelt werden. Empathie für die Mitarbeiter ist enorm wichtig. Es ist ein Mensch-zu-Mensch-Business, da sollte auch der Blick geschult werden für die Personen in der Küche oder an der Bar.“ Und natürlich: Mehr Frauen täten der Branche gut – nicht nur im Service.
„Next Level Bartending“ heißt ihr neues Projekt zur Nachwuchsförderung. Gezeigt
werden soll aber nicht nur, wie gute Cocktails entstehen. Vielmehr steht das „große
Ganze“ bei der Tätigkeit als Bartender im Vordergrund. Dazu zählen auch der Umgang mit dem Gast oder das Beschwerdemanagement. Linh hat genug Energie für mehrere Projekte auf einmal. So arbeitet sie auch an der Vermarktung ihrer erfolgreichsten Rezepte als „Bottled Cocktails“. Ende 2023 sollen diese „Signature Cocktails“ für alle Interessierten erhältlich sein. Zudem wird sie im August selbst einen Cocktail-Wettbewerb in München moderieren. Der „Lady Amarena Deutschland“ kürt am 7. August 2023 die beste Bartenderin Deutschlands.