rau Dr. Münch, als Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing schauen Sie sicher gespannt auf die Landtagswahl. Wie bereiten Sie sich auf den Wahlsonntag vor? Haben Sie an diesem Tag besondere Aufgaben?
Für mich ist der Haupteinsatztag der Tag danach. Dieser beginnt mit einer sehr frühen Sendung im Bayerischen Rundfunk sowie einer Wahlanalyse. Nachdem zuerst die bayerischen Medien berichten, erhalte ich nach und nach Anfragen aus dem gesamten Bundesgebiet, zum Teil auch von ausländischen Medien, denen ich dann das eine oder andere Interview gebe.
Gibt es aus Ihren Gesprächen mit Politikern, Wissenschaftlern oder Verbändevertretern in Hinblick auf die Landtagswahl besondere Themen oder Probleme, die Sie sehen?
Ein ganz großes Thema, und das hat schon bei der Bundestagswahl 2017 angefangen, ist die Beeinflussung der möglichen Wahlentscheidung durch gezielte Einflussnahme mittels digitaler Kommunikation. Da können Verzerrungen stattfinden und die Öffentlichkeit meint dann, die Stimmung im Land sei eine andere als dies tatsächlich der Fall ist. Und das schlicht und ergreifend, weil es Einflussnahmen von außen gibt, die über die sogenannten Sozialen Netzwerke ganz leicht unter die Leute gebracht werden.
Da gibt es ja verschiedene Möglichkeiten der Einflussnahme. Zum Beispiel die „Fake News“, die ganz gezielt gestreut werden. Wie empfehlen Sie den Leuten, damit umzugehen?
Das ist ein ganz schwieriges Thema. Gerade in einer Zeit, wo grundsätzlich jeder senden kann, und das in alle Richtungen. Früher war es ein Privileg der Massenmedien, nur sie konnten als Sender tätig werden. Heute erreichen uns ganz unterschiedliche Botschaften. Damals hatten wir geschulte Leute, nämlich professionelle Journalisten, die eine Auswahl getroffen und Informationen auf deren Zuverlässigkeit überprüft haben. All das müssen wir jetzt selbst machen, das ist eine ganz große Herausforderung.
Was bedeutet das für die Wählerinnen und Wähler im Konkreten?
Dass wir selbst als Wählerinnen und Wähler viel mehr leisten müssen, das aber gar nicht können, weil die Flut an Informationen so viel größer geworden ist. Deshalb ist meine Auffassung, dass politische Bildung, zumindest ein Grundverständnis dafür, wichtiger ist denn je. Und zwar weil wir die ganzen äußeren Leitplanken, die uns bisher ein bisschen Orientierung gegeben haben, entweder niedergerissen haben oder sie keine große Rolle mehr spielen. Es kommt also auf den Einzelnen an, zu gucken, woher eigentlich etwas kommt, die Quellen zu prüfen und immer die Frage zu stellen, wem die Verbreitung einer bestimmten Nachricht nutzt. Wer verfolgt womöglich eine Absicht, womöglich auch eine schlechte, indem man irgendwelche Shitstorms los tritt? Man sollte also nicht immer alles glauben. Auch nicht diesen Stimmungslagen, die sich dann womöglich transportieren, wenn man unter Umständen in Sozialen Netzwerken nur einem ganz bestimmten Personenkreis folgt. Dann bekommt man womöglich einen völlig verzerrten Eindruck.
Wie sieht es denn mit der Wahlbeteiligung aus?
Vor 50 Jahren betrug diese noch 80 Prozent, jetzt sind wir ungefähr bei 65 Prozent. Warum nimmt bei uns die Bereitschaft ab, zu einer Wahl zu gehen? Wir hatten tatsächlich eine abnehmende Wahlbeteiligung, die ist jetzt aber wieder im Steigen begriffen. Wobei das zum Teil auch die Leute sind, die früher Nicht-Wähler waren und inzwischen zu Protest-Wählern geworden sind. Die Schwierigkeit besteht meines Erachtens darin, dass wir zunehmend alle ungeduldig werden mit politischen Prozessen. Diese sind komplizierter geworden, weil die Weltlage komplizierter geworden ist. Es sind nicht mehr nur Ost und West, wo sich im Grunde alles voneinander unterscheidet, sondern durch die Globalisierung, die Europäisierung und verschiedene andere Trends sind Politik und Gesellschaftsleben, meines Erachtens, tatsächlich komplizierter geworden, sowohl national als auch international.
Was ist die Konsequenz daraus?
Ausgerechnet in dieser Zeit, in der das Leben schwieriger zu durchblicken ist, neigen immer mehr dazu zu sagen: „Die Volksparteien haben versagt. Ich wähle lieber eine kleine Partei.“ Auf diese Weise kommt es zu einem Verstärkungseffekt: Selbst eine Koalition der Volksparteien ist womöglich nicht mehr mehrheitsfähig. Dadurch kommen wir in einen gewissen Teufelskreislauf hinein. Wir Wähler machen es den Politikern schwerer, Regierungsmehrheiten zu bilden und beklagen uns zeitgleich, dass die Politik dazu nicht in der Lage ist. Womöglich wenden wir uns danach noch mehr von der Politik bzw. von den Volksparteien ab und suchen das Heil womöglich in einer noch größeren Zersplitterung und wundern uns dann wieder, wenn gar nichts mehr vorangeht.
Ist es eher gut, wenn eine Partei allein das Sagen hat oder wenn man ständig Koalitionen mit unterschiedlichen Gemengelagen bilden muss?
Ich habe eher ein Faible für die Mittellösung, ich bin keine Anhängerin von dem Extremen. Meistens liegt das Gute doch eher in der Mitte. Eine Alleinregierung muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein, aber ganz bestimmt ist dies auch nicht das krampfhafte Zusammenschnüren von Parteien, die eigentlich wenige inhaltliche Schnittstellen miteinander haben. Wenn man nach Kompromissen sucht, die man ja zwangsläufig zu finden gezwungen ist, dann muss man sich tatsächlich auf diesen sprichwörtlich kleinsten gemeinsamen Nenner immer mehr einlassen. Und je mehr Parteien an einer Koalition beteiligt sind, desto eher kommen da Parteien zusammen, die eigentlich nicht wirklich nahe beieinander sind. Aber es sind wir als Gesamtheit der Wählerschaft, die dieses Problem verursachen. Und da neige ich schon dazu zu sagen, dass Heil und Glück einer handlungsfähigen Demokratie nicht in der Suche nach einer noch spezielleren Partei liegen können, nur weil man mit einer anderen womöglich nicht zu 100 Prozent einverstanden ist.
Was halten Sie von Protest-Wählern, sind das verschenkte Stimmen?
Man sieht ja, dass diese durchaus etwas erreichen. Viele heutige Protest-Wähler waren vermutlich in der Vergangenheit Nicht-Wähler. Und als das noch so war, haben sich die Parteien überhaupt nicht um sie gekümmert. Man hat lediglich am Wahlsonntagabend bedauert, dass die Wahlbeteiligung nicht allzu hoch ist und hatte spätestens am Dienstag wieder vergessen, dass man nicht nur Abgeordneter der Wähler ist, sondern, bezogen auf den Bundestag, Abgeordneter des ganzen deutschen Volkes. Da haben die Parteien einen ganz großen Fehler gemacht. Sie haben die Nicht-Wähler und deren Interessenlagen zu wenig berücksichtigt und diese haben sich dann vernachlässigt gefühlt. Wenn die öffentliche und politische Aufmerksamkeit für die Protest-Wähler dann auf einmal da ist, ist die logische Konsequenz, dass sie sich wichtig und bestätigt fühlen. Insofern ist Protest-Wahl ein Indiz dafür, dass in unserer repräsentativen Demokratie tatsächlich etwas zu kurz gekommen ist und bestimmte Interessen zu wenig berücksichtigt worden sind, vor allem von den Volksparteien. Insofern gehört Protest-Wahl zur Demokratie dazu und zeugt auch davon, dass unsere Parteiendemokratie funktioniert. Nur: Wenn diese Protest-Partei dann womöglich eine ist, die unter Umständen einen Teil unserer politischen Prozesse nicht gutheißt, unsere Demokratie nicht gutheißt, die womöglich mit gewissen Grundrechtsartikeln, z. B. der Menschenwürde, ein gewisses Problem hat, dann ist die Protest-Wahl eben doch ein Problem.
Es wäre ja schön, wenn die Wahlbeteiligung wieder höher wäre und die Leute wieder eine politische Denke haben. Gibt es Ideen, wie auch wir als Verband unsere Mitglieder zur Wahl bewegen können?
Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass das politische Interesse in den letzten Monaten deutlich höher geworden ist; vielleicht schon in den letzten zwei Jahren. Da hat eventuell die Flüchtlingspolitik dazu beigetragen. Auch der Zulauf zu Parteien ist wieder etwas höher, ebenso zu Bewegungen, die sich beispielsweise für eine Stärkung der Europäischen Union der des Europa-Gedankens einsetzen. Ich denke mir, dass es ganz wichtig ist, politische Gespräche am Arbeitsplatz zuzulassen. Immer mit der Vorgabe, dass Spielregeln eingehalten werden müssen. Man sollte den Leuten nicht von vornherein verwehren, sich auch mal politisch auszutauschen und auch mal miteinander zu streiten. Denn das gehört dazu. Aber Arbeitgeber könnten auch anders in die Pflicht genommen werden. Ein Problem unserer repräsentativen Demokratie ist, dass wir zu wenige Leute in der Politik haben, die nicht Soziologie, Jura, Politikwissenschaft oder Lehramt studiert haben. Aber woher sollen die denn kommen? Sie müssen doch aus der Wirtschaft kommen, sie müssen aus den Betrieben kommen. Das müssen Selbstständige sein, das kann aber vielleicht auch der ganz normale Mitarbeiter aus einem gastronomischen Betrieb sein. Und wenn die Leute dann sagen, dass es ja nur noch Juristen und Lehrer im Parlament gebe, dann stelle ich mir die Frage, wann zum letzten Mal ein Mitarbeiter freigestellt wurde, der sich für Politik interessiert hat. Ein Parlament muss ja kein Spiegelbild einer Gesellschaft sein. Aber wenn wir zurecht gewisse Verzerrungen zugunsten eines doch sehr akademisch geprägten Parlaments kritisieren, dann müssen wir als Arbeitgeber umgekehrt auch überlegen, wie wir solche Wechsel erlauben und ermöglichen könnten.
Muss man vielleicht auch in der Erziehung junger Menschen mehr Wert auf Politik legen?
Ich denke, vor allem die Schulen müssen mehr Wert darauf legen. Wir haben inzwischen gewisse Versuche, die politische Bildung in Zukunft zu stärken. Das ist ganz, ganz dringend notwendig. Nicht, um Leute zu politisieren, sondern um ihnen das zu geben, was das Fundament von allem ist, nämlich eine solide historische, politische Bildung. Die ist für einheimische Schülerinnen und Schüler essenziell, um Zusammenhänge herzustellen und um zu verstehen, wo unter Umständen Bedrohungen sind. Für Zugewanderte ist sie wahrscheinlich noch wichtiger. Selbstverständlich sollte die Erziehung auch in den Elternhäusern stattfinden, aber das können nicht alle. Deshalb ist die Schule der richtige Ort. In der Schule gibt es ständig Entscheidungsprozesse und es muss vielmehr auch wieder ein Verständnis dafür geweckt werden, dass sich das Leben und die Welt nicht nur um einen selbst drehen. Wir leben heute in einer egomahnen Gesellschaft, in der das Selfie wichtiger ist, als das Bild von den anderen. Da müssen einerseits die Elternhäuser etwas dagegen setzen und andererseits die Schule, damit wir von diesem gesellschafts- und demokratiefeindlichen Trend wegkommen. Und auch von diesem Wunsch nach absoluten Lösungen, dass immer alles genau so sein muss, wie ich es möchte. Daher rührt die Unzufriedenheit mit der Politik. Dass sich vielleicht 80 Millionen andere etwas anderes wünschen, das klammern wir zu sehr aus.
Das Interview führte Chefredakteur Frank-Ulrich John
Zur Person
Prof Dr. Ursula Münch ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München und seit 2011 Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Außerdem ist sie Mitglied der Enquete-Kommission des Bayerischen Landtags zur „Reform des Föderalismus – Stärkung der Landesparlamente“. In ihrer Position führt sie Wahlanalysen durch und ist eine national wie international sehr gefragte Expertin.